Der ganz normale Wahnsinn
oder eben
Theater
Als wir am 2. September 2014 unser neues Theaterprojekt „Traumwerkstatt“ starteten war das so ziemlich die schlimmste Probe meines Lebens – und ich habe schon einige schlimme Proben erlebt. Dass wir am 5.6.2015 eine ganz tolle Premiere erleben durften, war damals tatsächlich schwer vorstellbar. Aber schon in der nächsten Probe entstanden erste Sprech- und Bewegungsimprovisationen zu den Szenen die wir jetzt sehen konnten. Ein Wunder – immer wieder!
Und wie immer
wenn ich dieses „Wunder“ Theater miterleben darf wird mir bewusst, was für
einen tollen Beruf ich doch habe. Auch wenn man mir bei der Premiere zu meinem
„Hobby“ gratulierte.
"Künstlerische Schulfächer fördern die Persönlichkeit, Hirnentwicklung
und Intelligenz, sogar in Mathematik! Wissenschaftlich gesehen wären die
wichtigsten Schulfächer Theater spielen, Musik, Sport, Kunst und Handarbeiten.“
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Hirnforscher und Psychologe (in: Profil
20/2012)
Theaterarbeit ist
tatsächlich die Persönlichkeit fördernste Beschäftigung die ich kenne. Mittlerweile
beschäftigen unendlich viele Firmen Theaterpädagogen um die Defizite
auszugleichen die das deutsche Schulsystem nicht hinbekommt, da der Stundenplan
auf die „wichtigen“ Dinge wie Mathe, Deutsch usw. reduziert ist. Manager mitsamt
ihren Abteilungen geschult: Teamfähigkeit, selbstständiges Denken UND Handeln,
Selbstbewusstsein, kreative Problemlösungen finden, ….. Kreativität wird oft
belächelt und damit verwechselt hübsche Bildchen zu malen oder was Nettes zu
Basteln. Tatsächlich ist es viel mehr: Kreatives Denken im Job erweitert die
Gestaltungsmöglichkeiten und ist die Voraussetzung um scheinbar unlösbare
Probleme zu lösen, beziehungsweise um Krisenprävention zu betreiben. Das kann
nun mal kein Computer. Und diese Fähigkeiten gehört zu dem, was man im
Berufsalltag gefordert und man im Privaten Alltag sehr oft braucht.
Motivation ist
das Zauberwort! Wenn Menschen Spaß an der eigenen Leistung haben, sie gewürdigt
wird ist man auch bereit sich einzusetzen. Ob für die nächste Deutscharbeit,
die Theaterpremiere oder für den Job – egal! Ich bin der Meinung, dass man sich
viele Nachhilfestunden sparen könnte wenn man stattdessen an der Persönlichkeit
arbeitet!
Ihre Kinder sind der Beweis für die positive Entwicklung der
Theaterarbeit (das Wort „Theaterspielen“ trifft meiner Meinung nach nicht den
wahren Kern dieser Art von Arbeit). Um die Theaterpädagogische Arbeit zu dem
Stück und die persönliche Leistung jedes Einzelnen transparenter zu machen,
hier ein paar Einblicke:
Herbst 2014
Tanzsequenz Sunrise Avenue – Nothing is over
Unser Thema heißt „Träume“. Ich frage nach den Träumen der Kinder und
die Antworten sind: Reitlehrerin, Musical Darstellerin, Richter usw. Ich stelle
fest, dass ich
differenzierter fragen muss und so sammeln wir
verschiedene Träume: Träume, die wir für unsere Familie haben, für unser Leben,
wie wir leben wollen, usw. Die Kinder diskutieren (das tun sie sehr gerne), was
es für sie bedeutet, wenn Träume wahr werden, wenn sie einen Traum aufgeben
müssen oder wie anstrengend es ist, wenn man einen Traum verfolgt. Die Kinder
sammeln in immer neuen Gruppenkonstellationen Gesten zu diesen drei Aussagen,
die Gesten werden nach und nach immer abstrakter und es entwickelt sich eine
feste Choreografie. Die passende Musik finden wir erst etwa ein halbes Jahr
später und meine Idee, das Ganze die Treppe runter zu spielen erforderte noch,
einige Bewegungen zu vereinfachen. Handstand auf der Treppe ist ja auch nicht
ganz so easy. Schwierig an dieser Szene ist, dass sich alle zur gleichen Zeit
bewegen oder stillstehen. Außerdem haben die Paare unterschiedlich lange Gesten.
Das muss man dann ausgleichen. Nach und nach erkennen wir, dass man bis acht
zählen muss, um die Treppe runter, quer durch den Raum zum Ende der Musik passend,
auf die anderen Seite zu gelangen. Vielleicht kann man sich jetzt ansatzweise
vorstellen, was das für eine hochkomplizierte Angelegenheit ist. Wie sich
herausstellte, kann Lilith am besten diese Zeit einteilen und alle orientieren
sich an ihr. Es ist eine meiner Lieblingsszenen!
Das Abstrahieren von alltäglichen Bewegungen gehört in den Bereich des
Tanztheaters und wurde von Pina Bausch entwickelt, eine der Kultfiguren der
Internationalen Tanzszene und eine der bedeutendsten Choreografinnen. Auch die
„Bewegungskette Mic Mac“, die sich an die „Insektenbilder“ in dem Video
anschließt, die Kinder hinaus und anschließend die Treppe hochführt, sind
abstrahierte Bewegungen zum Thema Träume. Jedes Kind hatte eine Geste entwickelt
und theoretisch muss man diese Gesten nur hintereinander ausführen.
Theoretisch. Praktisch hat man einen Rhythmus einzuhalten, muss die Füße
richtig setzen und natürlich muss alles synchron sein. 10 Gesten sind nicht
viel … denkt man. Aber wir hängen alle immer an den Gesten 6 und 7 – warum auch
immer. Also müssen die zwei Gesten noch mal etwas verändert werden. Lulu hat es
am schwersten, weil sie niemanden vor sich hat, auf sich gestellt ist und alle
auf sie schauen. Eine große Verantwortung. Alle anderen haben jemanden vor
sich. Wir proben immer wieder und fangen unzählige Male von vorne an aber erst
als wir eine große Runde um die Beachwiese gehen, macht es plötzlich Klick.
Lena erzählt mir, wie gerne sie singt und so bekommt sie „ihr“
Gesangssolo. Im Frühling – relativ kurz vor der Premiere – überlege ich als
Hintergrund ein Schattenvideo zu drehen. Wir haben eine Stunde. Eine halbe
Stunde brauchen wir um das Laken an den Wänden zu befestigen. Die restliche
halbe Stunde um das Video zu drehen. Da Lulu und Lilith den Songtext auswendig
kennen improvisieren sie ihren Tanz mehr als schnell. Das Schneiden dagegen dauert
wieder ewig. Macht aber nichts, da ich die ganze Zeit schallend lachen muss,
wenn ich die Beiden agieren sehe!
Tanzsequenz Drachen sollen fliegen
Einer der ersten Sätze der fiel war: Träume ist wie fliegen – nur
anders! Die anschließende Assoziationskette Fliegen – Drachen – blaue Drachen –
der Song: „Drachen sollen fliegen“ bescherte uns eine der ersten Tanzszenen. Die
Kinder lieben folgendes Spiel: Ich erzähle eine Geschichte, klatsche bei
bestimmten Wörtern in die Hände und die Kinder stellen in Gruppen oder alle
zusammen diesen Begriff nach. So entstanden jede Menge Drachen und wir mussten
uns auf zwei einigen. Wer darf Drachenreiter sein? Wer kann Drachenreiter
tragen? Wer ist Flügel? Wer das Maul? Wie fliegen Drachen? Wie kann man sich
hinhocken ohne umzufallen? Und wie steht man dann wieder auf? Fragen über
Fragen und alles muss ausprobiert werden. Ach ja – und dann noch ein bisschen
Choreografie drum herum… Das war im September und das richtige Aufstehen aus
der Hocke haben wir eine Stunde vor der Premiere hinbekommen.
Zukunftstraum, Nachttraum und Insektenbilder
Ein sehr beliebtes Ausdrucksmittel bei den Kindern sind Standbilder. Ein
Theatermittel, mit dem Augusto Boal gearbeitet hat. Boal war ein bedeutender
brasilianischer Regisseur, Theaterpädagoge und -theoretiker der das Theater der
Unterdrückten erfand und dem es um die Veränderung der Realität durch das Mittel
Theater ging. Durch das Reduzieren auf das Wesentliche entstehen der
„Zukunftstraum“, der „Nachttraum“ und die „Insektenbilder“ – die allerdings, erst
ein paar Monate später.
Spinner
Beim Sammeln verschiedenster Träume stoße ich auf Galileo,
Columbus und andere „Spinnern“ und ihren „verrückten“ Träumen. Ich erzähle den
Kindern was sich diese Träumer damals von der Menschheit anhören mussten und
die Kinder sind sehr empört. Dass sich Erfinder, deren Erfindungen und
Gedankengänge heute als wissenschaftlich erwiesen oder umsetzbar gelten,
ausgelacht wurden, ist für die Kinder unvorstellbar. Schnell sammeln die Kinder
jede Menge verrückte Träume.
Kleiner Ausschnitt:
auf den Kilimandscharo
zu klettern, selbstwaschende Socken, wasserfestes Auto, ein Einkaufszentrum zu
Hause, ein Auto das fliegen kann, wie Dornrösschen zu leben, Telefon, das
sprechen kann, Haare, die sich selber bürsten, Roboter, der die Gedanken lesen
kann, sprechende Haarspangen, Stifte, die von selber malt, unter Wasser leben
können, in einer Eishalle leben, mit Tieren sprechen zu können, fliegende
Häuser, sprechende Autos, Kirche mit Edelsteinhöhle, Rutsche runterrutschen und
im Märchen landen, das böse Menschen sich in Luft auflösen, Menschen die Eier
legen, 20 über Nacht, zaubern können….
Wir
einigen uns auf drei „Spinner“, losen aus wer sie sprechen soll und stellen
fest, dass Jana am besten den schwierigen Namen „Brüder Wright“ aussprechen
kann. In Verbindung mit Lenas verrücktem Traum eines virtuellen Klassenzimmers,
das einen einfach in die jeweilige Zeit reisen lässt, stand die Szene recht schnell.
Jetzt muss nur noch entschieden werden, welche Ausdrucksmitte benutzt werden.
Bei
dem Spiel: „Puppen tanzen lassen“ haben die Kinder verschiedene
Theaterausdrucksmittel kennen gelernt: Ein Kinder ist Regisseur und bestimmt
durch Hochhalten verschiedener Schilder wie seine „Spieler“ agieren sollen:
Freeze, Standbild, Catwalk, … In Kombination mit Tätigkeiten und Formationen
wie V-Form, Kreis, Diagonal usw. lässt der Regisseur die Puppen tanzen. Somit
lernen die Kinder Szenen selber zu entwickeln. So entsteht auch diese Szene:
durch Ausprobieren verschiedenster theatraler Mittel. Das ging auch sehr
schnell. Was dann allerdings eine für alle gefühlte Ewigkeit dauerte war: Wir
gehen im Kreis. Die Abstände und das Tempo sind immer gleich. Wir treten
niemanden in die Hacken. Der Kreis „wandert“ nicht. Er wird auch nicht größer.
Oder kleiner. Wir schlurfen nicht. Wir gucken gerade aus. Im April haben wir
eine halbe Stunde am Stück damit zugebracht, im Kreis zu gehen. Lena hat es dabei
besonders schwer, da sie außerhalb des Kreises steht und ihren Text sprechen
muss und dabei eine Million Mal unterbrochen wird und wieder von vorne anfangen
muss. Tatsächlich eine Zerreißprobe. Und unvorstellbar, wenn man das Ergebnis
heute sieht.
Der
Song „Spinner“ passt perfekt zu dieser Szene. Die einzelnen Träume, die von
Musik-, Schriftsteller-, und Schauspielerkarrieren usw. handeln, waren schnell
verteilt und bewegungsmäßig improvisiert. Die Choreo zum Refrain dauerte dagegen
wieder eine Ewigkeit, weil das Reihenwechseln ungemein kompliziert ist. Einer
der Ersten der es hinbekam, ist Emil, was ihn sehr stolz macht.
Liliths
verrückter Traum ist es, eine Elfe zu sein. Wikipedia weiß alles – auch, dass
in Island die Menschen an Elfen glauben. Die Kinder hören plötzlich, dass der
„Verrückte Traum“ in einem anderen Land gar nicht so verrückt ist. Sie sind
begeistert.
Seiltänzertraum
Balletttänzerin
zu werden war Lulus Traum. Mir fällt der Song „Seiltänzertraum“ ein und wir
choreografierten los. Das „ Bewegungslos am Boden liegen bleiben“ fällt den
Kindern schwer und wir üben sehr lange. Erfolgreich. Lulu bekommt ihr
Ballettsolo und im Mai finde ich endlich im Internet orange Regenschirme die
wir für das Balllancieren brauchen.
Winter
2014
Kinderwünsche
dieser Welt
Die
Kinder überlegen, was wohl Kinder in anderen Ländern für Träume haben. Ich
finde im Internet einen Fotografen, der Kinder und ihre Kinderzimmer
fotografiert hat. Es sind sehr beeindruckende Bilder und ich wähle einige aus
die ich den Kindern zeige. Zum Teil sind es sehr arme Kinder die nur eine Bambusmatte
haben. Auch sehr reiche Kinder in Asien, die unendlich viel Spielzeug haben.
Das Bild eines etwa 12 jährigen amerikanischen Jungen, der ein Gewehr im Arm
hält, beschäftigt die Kinder sehr. Vor allem Emil gefällt das überhaupt nicht.
Ein kleines Mädchen, stark geschminkt mit toupierten Haaren, macht dagegen
Luise wütend. Die Kinder überlegen, was sich diese Kinder wohl alles wünschen
und wir sammeln Kinderträume aus aller Welt. Es sind unendlich viele. Lena
sagt: „Andrea, eins finde ich auch wichtig: Da gibt es ein Land, in dem die
Frauen nur durch einen schmalen Schlitz ihres Schleiers gucken dürfen. Das
finde ich nicht richtig“. Die Kinder finden alles sehr wichtig aber wir müssen
kürzen. Das fällt schwer. Die beiden wichtigsten Träume sind (und zwar
einstimmig und mit großem Abstand): Dass alle Waffen dieser Welt vernichtet
werden und das keine Atomraketen mehr gebaut werden. Ich bin beeindruckt von dem
großen Allgemeinwissen der Kinder. Wir kürzen und kürzen und irgendwann hat
jedes Kind nur noch 3 Sätze. Zu diesen Sätzen malen die Kinder Aquarellbilder,
wobei wir feststellen, dass wir nicht wissen wie Waffen oder Panzer aussehen
und das meine gemalten Pistolen eher wie
Haarföne aussehen. Da freuen wir uns doch alle!
Rudolfo
Mittlerweile
kleben wir die einzelnen Szenen auf eine Tapetenrolle, damit alle jederzeit einen
Überblick haben. Dabei fällt mir auf, dass wir, um die einzelnen Szenen zu
verbinden, einen literarischen Text gut gebrauchen könnten. Mit fällt „Die
Werkstatt der Schmetterlinge“ von Giaconda Belli ein. In der Geschichte geht es
um Rudolfo, der auch einen „verrückten Traum„ hat. Wir lesen, reden und
diskutieren und die Kinder markieren die Stellen die ihnen wichtig sind. Die
Geschichte eignet sich perfekt für unser Stück, und wir zerteilen sie in
einzelne Abschnitte, die wir chronologisch auf unsere Tapete kleben. Die
„verrückten Träume“ der Kinder werden eingefügt.
Biografische
Texte der Kinder
Anhand
von Rudolfos Geschichte sammeln wir Gefühle: Wut, Trauer, Zuneigung,
Enttäuschung usw. Es entsteht ein Spiel: Die Kinder bewegen sich zu Musik. Ich
stoppe und sage: „Als ich einmal sehr glücklich war.“ Oder: „Als ich einmal
sehr einsam war“. Dieses Spiel funktioniert nur, wenn man Vertrauen in die
Gruppe hat. Aus diesem Grund brauchten wir am Anfang des Projekts auch Zeit, um
dieses Vertrauen aufzubauen. Wenn man so was mit Erwachsenen spielt, dauert es
etwa 10 Minuten, bis jemand sich traut zu erzählen. Bei den Kindern ist das
anders. Und sie haben nicht nur eine Geschichte, sondern viele – zu jedem
Gefühl höre ich viele Geschichten. Manche sind lustig und manche sehr traurig.
Ich erkläre den Kindern, dass diese Geschichten absolut safe bei mir sind. Und
das später keiner auf der Bühne etwas erzählen muss was er nicht möchte. Und
das man diese Geschichten so erzählen kann, dass der Zuschauer die „Echtheit“ erkennt,
aber nicht alles über den Erzähler weiß. Und wie man Möglichkeiten findet, dass
der Erzähler aus der Szene rauskommt, wenn er nicht mehr weiter erzählen kann. Die
Biografischen Texte der Kinder finden nach und nach ihren Platz auf der Tapete.
Bertold
- Brecht Texte
Die
Kinder fragen, was ich in der letzten Fortbildung gemacht habe, und ich erzähle
von Bertold Brecht, der die Zuschauer in seine Stücke involviert hat indem er
sie nach ihrer Meinung zu den Dingen, die auf der Bühne passieren, befragt oder
selber kommentiert. Die Kinder sind Feuer und Flamme und wollen alle unbedingt
mindestens eine „Brecht – Szene“ haben. Wir verteilen alle „Brecht- Texte“ auf
der Tapete und ab sofort bin ich diejenige, die Zuschauer spielt und Rede und
Antwort stehen muss. Alle haben großen Spaß bei diesen Szenen und denken sich
immer neue Szenarien aus. Diese Souveränität, die die Kinder in diesen Szenen
bei den Aufführungen gezeigt haben, war harte Arbeit. Nur wenn man sich einer
Sache sehr sicher ist und keine Angst vor „doofen“ Antworten der Zuschauer hat,
kann man diese Spielfreude zeigen. Dieser „Mut zur Lücke“ in den Szenen, in der
z.B. nicht gesprochen, sondern gegessen wird, ist oder die fordernde Stimmlage,
in der die Kinder Antworten von den Zuschauern verlangen ist wirklich mühevolle
Arbeit. Wenn man sich vorstellt, man müsste fremde Leute auf diese Art und
Weise ansprechen, wird einem klar wie schwierig das sein kann.
Another
Brick in the wall
Annas
biografischer Text handelt von einem Tag in ihrer Schulzeit als sie einen
Zusammenstoß mit ihrer Lehrerin hat. Dieser Zwischenfall passt zu der „Weisen
Alten“, die Rudolfo das Träumen verbieten will und „Another Brick in the Wall“
passt auch dazu. Da zu diesem Zeitpunkt die Bühne voll mit zusammengeknüllten
Zeichenversuchen von Rudolfo liegt, fällt mir die Performancegruppe „Stomp“
ein, die u.a. mit Besen rhythmische Geräusche erzeugt. Wir probieren es aus und
es klappt erstaunlicher Weise sehr schnell.
Ika’s
Brief
Ilka beendet „Kinderwünsche aus aller Welt“ mit dem Satz: „Und
manche Wünsche kann man gar nicht mehr erfüllen.“ So wie z.B. ihr eigener
Wunsch, ihren verstorbenen Großvater kennengelernt zu haben. Sie schreibt ihm einen wunderschönen
Brief.
„Lenas
und Emils Hunde“
„Rudolfo träumte weiter seinen Traum. Die
anderen machten sich über ihn lustig und er war traurig und fühlte sich sehr
einsam.“
Traurig
fühlte sich auch Emil als sein Hund starb, weil beide eine enge Beziehung
hatten. Die hat Lena auch zu ihrem Hund und aus den beiden Geschichten entstand
ein sehr schöner Dialog, an dem beide so lange an der richtigen Betonung
feilten, bis er perfekt war.
Beide
Szenen (Ilkas Brief und Lenas und Emils Hunde Dialog) sind biografische Texte,
sehr persönlich und berührend. So etwas zu erzählen ist nicht einfach. Ich hab
mehrfach die Wörter „süß“ und „wie niedlich“ von Zuschauern (Fremde?) gehört. Das
ist aber leider völlig fehlinterpretiert und passt in keinster Weise zu diesen
Szenen. Vielleicht muss man das Bewusstsein dafür schärfen, dass auch Kinder
fernab von Super RTL in der Lage sind, intelligente und emotionale Texte zu
schreiben, zu sprechen und zu verstehen, wenn sie entsprechend gefördert und
gefordert werden.
„Der
Hund“
Als
die Kinder im Rudolfo Text ihre wichtigsten und schönsten Stellen markierten
war schnell klar: Der Hund ist allen SEHR wichtig. Diese Begeisterung währte nur
kurz. Etwa ein halbes Jahr später war sie wieder da. Die gemeinsame Szene „Der
Hund“ hat allen zu schaffen gemacht. Jeder hatte mit seinen ganz persönlichen
Problemen zu kämpfen, weil er bei seinem Satz an einer ganz bestimmt Stelle
stehen musste - dieses Manövrieren um
die Plätze dürfte heute niemandem mehr auffallen.
Namen
der Szenen
„Der
Hund“ gehört eindeutig zu den für Außenstehende unverständlichsten Szenennamen.
Die entstehen bei Proben, hören sich seltsam an, aber alle wissen, worum es
geht.
Kinder
an die Macht
Nach
Annas Satz: „Wenn wir Kinder nur mehr zu sagen hätten“ fällt mir nur ein: „Gebt
den Kindern das Kommando“. Den Grönemeyersong mag erstmal niemand. Text,
Stimme, Musik – alles doof. Irgendwann singt einer mit. Eines Tages alle – und mittlerweile
hören sie nicht mehr auf mitzusingen und einige sagen mir: „Schick mir mal die
Musik“.
Welt der Wunder
„Rudolfo
glaubte an sein Wunder und gab nicht auf“. Franzi erzählt von ihrer Lese-
Rechtschreibschwäche, wie schwer es manchmal ist, damit zu recht zu kommen und
hofft auch auf ein Wunder. Passend dazu gab’s das Lied Welt der Wunder von den
Kindern kurz WWW genannt. WWW war auch schwierig. Warum weiß eigentlich niemand
so genau. Lulu ist wieder die, die an erster Stelle steht und alle achten auf
sie. Aus diesem Grund steht sie auch
immer am schnellsten zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz ist. Franzi
übernimmt später in der Choreo den Mittelteil und schließlich ist alles sehr
harmonisch.
Nichts ist
vorbei
Einige
Textauszüge haben wir dem Buch: „Es ist, was es ist“ entnommen und relativ
einfach in einen Theatertext umgewandelt. D.h. Textstellen wiederholt und
chorisch gesprochen. Die Kinder konnten schnell ihren Text – schwierig war nur,
nach „Nothing is over“ an seinem Platz zu landen und „Präsent sein“.
Der Große Brief
Die Kinder
schreiben Briefe an Rudolfo, die Weise Alte und den Hund. Stellvertretend für
alle lesen Jana, Lilith und Katharina jeweils einen zusammengefassten Brief
vor. Jana übt ihren Brief schön zu lesen so lange, bis sie ihn sogar auswendig
kann.
Die
Moorleiche
Diese
Szene umfasst die Geschichten „Die Moorleiche“, „Die Vampire“, „Das Mädchen aus
der dritten Klasse“, „Der Unfall“ und „Meine Freundin“ die zu den Gefühlen:
Angst und Einsamkeit entstanden. Einer erzählt seine Geschichte, die anderen
spielen die Szene und der Erzähler springt in die Handlung hinein. Schwierig
waren nur die Übergänge zwischen Erzählen, Freeze und spielen. Texte auswendig
lernen und sprechen war dagegen einfach.
Wenn
ich groß bin
Die
Sätze zu dieser Szene stammen aus der Anfangszeit der Theaterproben. Ich habe
Satzanfänge der gesammelten Sätze von damals aufgeschrieben und von den Kindern
neu beenden lassen. Dabei entstanden so schöne Sätze wie: „Wenn ich groß bin,
möchte ich meinen Eltern ein Haus an der Allianz Arena kaufen“ von Anna oder
„Wenn Träume in Erfüllung gehen, ist das wie… ein Feuerwerk“ von Katharina. Von
Jana stammt der Satz: „In meinen Träumen kann ich … glücklich sein“ und sie
achtet sehr darauf, ihre Pause einzuhalten.
Die
Narbengeschichte
Wir
sammeln Narbengeschichten. Innere und äußere. Katharina hat gleich zwei parat.
Für die zweite stellen die Kinder recht anschaulich ein Fahrradrennen nach, zu
dem Katharina ihre Geschichte erzählt. Einzige Schwierigkeit an dieser Szene:
Die „Fahrräder“ wollen nicht aufhören zu quatschen.
Das
Bild das seine Meinung sagt
Ilka’s
verrückter Traum von einem Bild, das immer seine Meinung sagt, entwickelt sich
am Anfang nur sehr langsam, dafür später immer rasanter. Es ist ein sehr gutes
Beispiel dafür, wie Theaterarbeit die Teamfähigkeit fördert. Wenn man als
Zuschauer das Endergebnis sieht, bekommt man davon nichts mit, aber bei den
Proben war es sehr deutlich zu merken. Eine so schöne Idee haben, wie Ilka sie
hat, reicht leider nicht. Da muss das ganze Team ran und es auch umsetzen. Dafür
ist es eben auch wichtig, dass alle mitarbeiten und vor allem da sind. Sonst
funktioniert es nicht.
Fireflies
So
wie auch die Insektenwerkstatt draußen gespielt wird so ist es auch bei
Fireflies. Es ist eine Choreo, bei der die sich nacheinander zu sich hinziehen.
Der Übergang, wenn die Kinder wieder auf der Bühne sind, liebt vor allem Luise,
da jetzt ihr Brechttext beginnt, bei dem sie am Anfang des Jahres noch sehr
schüchtern war, aber bei der Premiere richtig losgelegt hat. Auch Franzi liebt
ihren Brecht- Text bei dem sie mit dem Publikum agieren kann.
Auf
uns
Diese
Choreo haben wir unvorstellbar oft geübt. Ein Riesenproblem war die V-
Formation, die eingehalten werden musste, die Synchronität der Schritte und das
richtige Timing zur Musik. Da auch hier Lulu und Lilith vorne waren und beide
ein gutes Gespür für diese Dinge haben konnten / mussten sich alle nach ihnen
richten.
Freundinnenbriefe
In
Rudolfos Text geht es auch um Freundschaft. Lulu und Lilith haben sich dieses
Thema ausgesucht, weil sie beste Freundinnen sind. Jede hat einen Brief an die
jeweils andere geschrieben – und zwar so, dass keiner was davon mitbekam. In
keiner Probe wurde das jemals geübt. Deswegen war die Überraschung und die Freude
auch so groß, ENDLICH diesen Brief lesen zu dürfen.
Hunderttausend
Rosen
Diese
Choreo gehört auch zu meinen liebsten Szenen des Stückes. Vielleicht auch, weil
ich die Entwicklung mitbekommen habe. Ich habe den Songtext in Drei- oder
Vierzeiler unterteilt und in 3er oder 2er Gruppen gegeben. Die Kinder hatten
die Aufgabe, eine Choreo zu erstellen unter folgenden Gesichtspunkten: Welche
Formation sollen die Tänzer einnehmen? In welche Richtung geht der Blick? Wer
bewegt sich wann und wohin? Und in welche Richtung? Auf welcher Ebene findet
das ganze statt? Am Boden, liegend, stehen,..? Welche Gesten, Mimik haben die
Tänzer? Welches Tempo haben die Tänzer? Diese kurzen Zweizeiler sind auch
deshalb sehr abstrakt, weil die Kinder nicht die Musik kannten.
Folgender
Text wurde z.B. von Ilka, Franzi und Lulu vertanzt:
„Ich weiß wovon
du redest
Wenn du das nicht
mehr glaubst
Gebrannte Kinder
sind wir
Doch ich schwöre
es dir
Dass
du dich selbst beraubst“
Man
merkt: ganz schön abstrakt – so ganz ohne Musik.
Das
Vertanzen ging äußerst schnell. Wir mussten nur noch die Übergänge hinbekommen
und etwas angleichen. Fertig. Perfekt. Ach ja … und dann noch üben…
Übergänge
Manche
Übergänge sind supereinfach weil sie von der Musik gesteuert werden oder weil
es eine logische Abfolge ist. Andere sind schwieriger und da haben Anna und
Luise tolle Arbeit geleistet.
Frühling 2015
Ende
Februar war alles fertig und jetzt mussten wir NUR noch üben.
Zum
Thema Üben höre ich oft: Ich kann den Text.
Textlernen
beinhaltet: Ich kann den Text so auswendig, dass man an der Betonung, Mimik,
Gestik arbeiten kann. Die Texte werden unterschiedlich gesprochen. Eine
Erzählung aus Rudolfos Geschichte hat eine ganz andere Betonung als die biografischen
Texte oder die „Brecht- Texte“ oder gar die verrückten Träume.
Zum
Drehbuchlernen gehört auch: Ich weiß die ganze Zeit wo ich bin und wo ich hin
will und wo die anderen sind und wo die hinwollen. Und ich weiß auch, dass
vielleicht grade ein anderer ein Solo spricht, dass mich aber trotzdem alle
Zuschauer die ganze Zeit sehen können. Man sieht und hört mich, wenn ich
Quatsch mache. Und ich störe dabei denjenigen auf der Bühne. (Es sei denn, ich
laufe um den Südbahnhof herum und streichele Hunde, die vorbeikommen, unterhalte
mich mit dem Besitzer und bedauere ein sich übergebendes Kind – DAS geht
natürlich)
Zum
Drehbuch lernen gehört auch - ich kenne die Musik so gut, dass ich auch allein
tanzen könnte. Theoretisch. Denn praktisch muss ich die ganze Zeit die Gruppe
im Auge haben und mich daran orientieren. Das macht es auch so unendlich schwer
für die Kinder wenn jemand nicht da ist.
Ich hoffe, ich konnte ansatzweise erklären, wie die Arbeit zu diesem
Stück war, und zeigen, wie wertvoll das Theater für die Entwicklung aller ist.
Dieses Stück ist Collagenartig aufgebaut, gehört zu den postmodernen Stücken
und ist das Theater des 21. Jahrhunderts. Es ist natürlich viel einfacher ein
Stück im Internet runterzuladen, den Kindern in die Hände zu drücken und zu
sagen: „Bitte bis nächste Woche lernen“. Das ist 18. Jahrhundert und vom
Lernfaktor mal abgesehen total langweilig. Das gleiche gilt auch für den
Tanzbereich.
„Wer spielt die Hauptrolle?“
Das höre ich öfter. Da ich ressourcenorientiert arbeite, kann jedes Kind
etwas, was es besonders gut kann, umsetzen. Jeder ist Hautdarsteller!
„Soviel Proben – das soll doch Spaß machen!“
Habe ich auch schon gehört. „Spaß haben“ kann man auch, wenn man Leistung
zeigen kann bzw. darf ,Man sieht es in den Augen der Kinder, die nach harter
Arbeit müde aber glücklich sind, weil sie souverän durchgespielt haben. In
unserer „Super RTL Spaßgesellschaft“ in der es um den schnellen Lacher geht,
muss immer alles ganz schnell gehen, bitte ohne viel denken, ohne viel
Verantwortung und ohne viel Arbeit.
Arbeit – ja. Man spricht oft davon, dass wir in einer
Leistungsgesellschaft leben. Ich sehe das nicht so. Ich finde, dass falsche
Leistung gefordert wird. Immer häufiger kommen Kinder in den Kindergarten die
weniger Kindergartenreif sind und Kinder in die Schule, die weniger Schulreif
sind. Es ist toll, wenn man mit fünf Jahren lesen oder bis 100 zählen kann und
wenn man Klassen überspringt und mit 15 sein Abi macht ist das auch großartig (abgesehen
davon, dass man nicht auf seine eigene Vorabifeier darf, weil man zu jung ist!)
Nichts davon interessiert jedoch später den Arbeitgeber. Den interessiert die
Persönlichkeit - und da wären wir wieder am Anfang meines Textes.
Ich wünsche allen einen schönen Sommer,
bedanke mich bei den Eltern für ihr Engagement
und vor allem bei den Kindern für dieses Theaterjahr!
Andrea Crusius